Im Mai 2024 ist in der Bonner Kölnstraße 32 eine zeitgenössische Interpretation von Henri Rousseaus historischem Kunstwerk Woman Walking in an Exotic Forest als Mural an der Fassade des Bonner Finanzamtes realisiert worden. Die dortige Standortleiterin hatte die perfekt für Kunst im Öffentlichen Raum geeignete Fläche freundlicherweise vermittelt. Eine junge Nachwuchskünstlerin von der Alanus Hochschule, Shaleen Faussner, ist die Schöpferin dieses Werks, das eigentlich zunächst nur als Leinwandprojekt existierte. Zwei erfahrene Street Art Künstler, Holger Weißflog und Jakob Bardou, bekannt unter dem Künstlernamen innerfields, unterstützten die Kunststudentin bei der Herausforderung, das Leinwandbild im Großformat auf die Fassade zu transferieren. Das Kunstwerk soll die Betrachter*innen mit einem Fingerzeig an die Erhabenheit und Übermacht der Natur gemahnen, weil die Menschen jene leider immer wieder unterschätzen.
Das Projekt ist die erfolgreiche Fortsetzung eines Pilotprojektes, das ein Jahr zuvor in Swisttal erprobt worden ist. Auch das Projekt in Swisttal basiert auf dem Konzept der Nachwuchsförderung, insofern als ein junger, herangehender Künstler (Lukas Zimmermann) mit einem bereits arrivierten Urban Art Künstler (Case Maclaim) zusammenarbeiten durfte, um sein Kunstwerk von der überschaubaren Leinwand auf die große Fassade und in den öffentlichen Raum zu bringen. Bei dem aktuellen Projekt in der Kölnstraße wird wiederum einer jungen Künstlerin die Möglichkeit geboten, als Kunstschaffende im öffentlichen Raum aktiv zu werden und damit am öffentlichen Diskurs zu partizipieren. Gemeinsam ist den beiden Projekten in Swisttal und Bonn weiterhin, dass ihnen jeweils ein Studierendenwettbewerb der Dr. Hans Riegel-Stiftung gemeinsam mit der Alanus Hochschule vorausging. Das Konzept dieser Wettbewerbe orientierte sich eng am Konzept von WALLS OF VISION, da ein historisches Kunstwerk – im Hinblick auf das Thema des Wettbewerbs – zeitgemäß interpretiert werden musste.
Weil Shaleen Faussner 2023 mit ihrer Rousseau-Interpretation siegreich aus dem Wettbewerb zum Thema „Wald“ hervorging, erhielt sie dieses Frühjahr (13.05.-17.05.) endlich die Chance, ihr Gewinnerbild auf eine Fassade zu replizieren. Mit den Künstlern von innerfields hatte sie dabei zwei Mentoren an ihrer Seite, die bereits langjährige Erfahrung und viel Know-how im Bereich der Fassadenkunst mitbringen und die ihr insofern während des gesamten künstlerischen Umsetzungsprozesses eine wertvolle Hilfe waren. Das Berliner Künstlerkollektiv innerfields ist bereits seit über 20 Jahren aktiv und hat sich erst im Laufe der Zeit auf realistische und symbolisch aufgeladene Murals spezialisiert, die einen Bezug zu verschiedenen sozialkritischen Themen herstellen. Dominierende Themen sind die digitale Welt und die Dissonanz zwischen dem Menschen als Teil der Natur und seiner zunehmenden Entfremdung von ihr in einer technisierten und künstlich erschaffenen Welt.
Shaleen Faussner hat sich mit Henri Rousseau (1844-1910) einen Künstler als Inspirationsquelle ausgesucht, welcher vor allem für seine magisch und geheimnisvoll anmutenden Dschungelbilder bekannt ist. Als Autodidakt ist Rousseau gemeinhin im Bereich der Naiven Kunst zu verorten, hat ferner aber auch Berührungspunkte mit den Impressionisten. Neben seinen fantasievollen und farbenfrohen Bildern von exotischen Wäldern, die er selbst tatsächlich nie mit eigenen Augen gesehen hat, schuf Rousseau viele weitere traumartige, weltfremde Bildkompositionen, die ihn als Wiederentdecker der Fantasie am Anfang der Moderne und als wesentlichen Wegbereiter des Surrealismus ausweisen.
Die gewählte Vorlage Woman Walking in an Exotic Forest reiht sich ebenfalls unter Rousseaus Dschungelbildern ein. Eine Frau im rosa Kleid und mit Hut in der unteren Mitte des Bildes steht vor einem gigantisch wirkenden Dschungel. Sie wirkt unscheinbar und geradezu zwergenhaft winzig im Vergleich zu den überdimensional großen Pflanzen, die sie partiell verdecken. Extreme von Groß und Klein treffen hier aufeinander. Clusterartig sind verschiedene Arten und Größen von Grasbüscheln, Blattwedel mit gespreizten Blättern und sonnenförmige, blaue Blumen linear so angeordnet, dass repetitive Muster und Symmetrien entstehen. Die Regelmäßigkeiten werden zunehmend aufgebrochen durch die hohen, rechts und links am Bildrand aufragenden Orangenbäume im Hintergrund, deren Früchte eher verstreut hängen und die sich zur Mittelachse des Bildes hin besonders verdichten. Hinter dem Urwald wird oben ein Stück blauen Himmels sichtbar. In ihrer eleganten Kleidung wirkt die Frau im Dschungel eher deplatziert. Der Eindruck, dass sie durch eine surreale Traumwelt wandelt, wird noch verstärkt durch die bizarren Größenverhältnisse – die Orangen sind größer als der Kopf der Frau. Typischerweise arbeitet Rousseau mit klaren Konturen und harten Kontrasten. Im gesamten Bild überwiegen insgesamt viele verschiedene Grüntöne, wobei einzelne Farbakzente gesetzt werden – etwa durch das Rosa des Kleides, das sich auch bei den Blüten im Hintergrund wiederfindet, oder durch das Orange der Früchte und das Blau der Blumen.
Shaleen Faussner behält in ihrer neuen Interpretation von Rousseaus Werk als wesentliche Grundmotive die Dschungellandschaft und die Frauenfigur bei. Allerdings orientiert sie sich im Hinblick auf einzelne Pflanzenmotive nicht an Rousseau, sondern erschafft ihren eigenen Dschungel mit ganz anderen, vielfältigen Blatt- und Blütenmotiven, neuen Formen und Farben. Hinter dem Dschungel ragt ein ausbrechender, Lava speiender Vulkan auf, der den Himmel mit seinen Feuerwolken in verschiedenen Orange- und Violetttönen verfärbt. Gerahmt wird die gesamte Szenerie von zwei massiven, aufgeschwungenen Holztüren, die den Blick in den tiefen Urwald freigeben. Die wie in der Vorlage mittig lokalisierte Frauenfigur wird zu einer Rückenfigur umgewandelt, die nicht aus dem Dickicht hervorkommt, sondern auf einem Weg in den Urwald hineinschreitet. Sie trägt moderne Kleidung und sticht durch einen strahlend blauen Rock aus dem Bild hervor. Wie bei Rousseau wirkt sie vor dem gewaltigen, hoch aufragenden Urwald vergleichsweise klein und unbedeutend. Überwiegen bei Rousseau gedeckte Grün- und Orangetöne, hellt Shaleen Faussner die Farbpalette deutlich auf und erweitert sie um verschiedene Braun-, Rot-, Gelb- sowie Blau- und Violetttöne.
Neben der Rückenfigur, die zur Identifikationsfigur für den/die Bildbetrachter*in wird, sind es die hölzernen Tore, welche die Betrachtenden stark ins Bildgeschehen miteinbeziehen. Sie sind das Medium, das eine Brücke zwischen der städtischen Alltagswelt der Passant*innen und der entrückten Welt des wilden Dschungels herstellt. Stadt- und Naturraum treffen hier aufeinander. Dabei verdeutlicht das Tor als potenzielle Barriere einerseits die Entfremdung des Menschen zur Natur, indem es die Grenze zwischen seiner Welt und der Dschungelwelt deutlich markiert. Geöffnet, verleitet das Tor gleichzeitig zum Überschreiten der Schwelle und ist als Einladung zu einer Rückkehr zur Natur zu verstehen. Dem/der Betrachtenden wird dazu die eindrucksvolle Schönheit und die faszinierende Vielfalt der Natur vor Augen geführt. Gerade auch die bunte Farbgebung unterstreicht die atemberaubende Pracht der Natur, welche die Menschen in ihren Bann zu ziehen vermag.
Das Werk ist eine Erinnerung an den Wert der Natur und gleichzeitig Kritik an ihrer mangelnden Wertschätzung, mehr noch an ihrer Unterschätzung. Noch deutlicher wird hier, was mit Blick auf die Größendimensionen bereits gewissermaßen in Rousseaus Werk ersichtlich wird: die Ohnmacht des Menschen angesichts der Erhabenheit der Natur. Die Natur besitzt gewaltige und unbeherrschbare Kräfte, denen der Mensch hilflos ausgeliefert und im wahrsten Sinne des Wortes nicht gewachsen ist. Er wirkt winzig klein und schwach, wenn er der Natur gegenübersteht und wird zum Spielball ihrer Launen und Kräfte. Der Dschungel wird hier zum Inbild der wilden, unbezähmbaren Natur, ein Vulkan Symbol ihrer Bedrohlichkeit. Immer wieder kommt es vor, dass die Menschen zu Hybris neigen und vergessen, dass sie der Natur unterlegen sind. Erst Naturkatastrophen – wie hier ein Vulkanausbruch – erinnern sie erneut an die Übermacht der Natur und daran, dass sie jene nicht kontrollieren oder gar bezwingen können. Shaleen Faussners Werk soll diesem menschlichen Vergessen entgegenwirken und als eine beständige, bildhafte Erinnerung an die Erhabenheit der Natur fungieren. Zugleich ist es lesbar als ein Aufruf zu entsprechender Wertschätzung, zu Respekt und Demut vor der Natur.