Im Rahmen des neuen WALLS OF VISION-Projekts am Kinder- Jugend- und Familienzentrum der Caritas in Leipzig/Grünau (RTL-Kinderhaus) ist ein Fassadenwerk entstanden, das den Wert und die Wichtigkeit menschlichen Miteinanders thematisiert. In diesem Zusammenhang bestand ein wesentliches Ziel des Projektes darin, ein Kunstwerk zu erschaffen, welches nicht nur inhaltlich das Thema menschlicher Gemeinschaft aufgreift, sondern welches selbst aus einer Gemeinschaftsarbeit hervorgegangen ist. Der künstlerischen Gestaltung einer großflächigen Fassade, ausgeführt von dem Leipziger Künstler Sebastian Magnus, gingen dementsprechend verschiedene Vorbereitungsworkshops für die Kinder, Jugendlichen und Mitarbeitenden des Familienzentrums voraus. Diese Workshops sollten allen Mitgliedern und Besucher*innen des Familienzentrums die Möglichkeit geben, den Künstler bei seinem kreativen Schaffensprozess durch die Einbringung ihrer eigenen Ideen zu unterstützen und auf diesem Weg einen maßgeblichen Beitrag zu der Entstehung des großen Fassadenkunstwerks zu leisten.
Grünau ist die größte Plattenbausiedlung Leipzigs, in der lange Zeit ein starker Rückgang der Wohnbevölkerung und infolgedessen eine Zunahme des Leerstands und Rückbaus von Wohnhäusern zu verzeichnen war. Die Sozialstruktur dieses Stadtteils wurde in der Folgezeit beträchtlich durch die Ansiedlung von überwiegend einkommensschwachen Haushalten geprägt. Zwar sind diese Entwicklungstrends mittlerweile wieder rückläufig, doch sind ihre Auswirkungen auch heute noch merklich spürbar. Umso wichtiger sind Institutionen wie das Kinder- Jugend- und Familienzentrum der Caritas in Grünau, das sich für die soziale Unterstützung, die Bildung sowie das Miteinander der jungen Menschen und Familien vor Ort einsetzt.
Dem Künstler Sebastian Magnus war es ein persönliches Anliegen, dem Zusammenhalt der Menschen in Grünau in Form eines Wandgemäldes am Familienzentrum der Caritas in Grünau Ausdruck zu verleihen. Als Ausgangspunkt für sein Wandgemälde wählte er das historische Kunstwerk „Kinderreigen“ (1872, Öl auf Leinwand, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe) von Hans Thoma aus.
Hauptthema dieses realistischen Gemäldes ist der Tanz, der als Sinnbild für das menschliche Miteinander gesehen werden kann. Auf Thomas Gemälde sind acht bäuerlich gekleidete Kinder unterschiedlichen Alters und Geschlechts abgebildet, die auf einer blühenden Frühlingswiese inmitten einer idyllischen, bergigen Landschaft einen Reigen tanzen. Insbesondere der Reigen als ein Gruppentanz, bei dem sich die Kinder so an den Händen halten, dass eine geschlossene Kreisformation entsteht, bringt die Ideen von Verbundenheit, Zusammenhalt und harmonischer Gemeinschaft besonders deutlich und im wahrsten Sinne des Wortes leibhaftig zur Geltung. Dementsprechend wundert es nicht, dass Sebastian Magnus in seiner Neuinterpretation von Thomas Gemälde das Grundmotiv des Reigens beibehält. Gleichzeitig nimmt er gegenüber der Vorlage einige Vereinfachungen vor, indem er die Personenanzahl auf nur fünf Tanzende reduziert und die Körper der Tanzenden stark stilisiert. Zudem weist Sebastian Magnus‘ Werk eine merkliche Steigerung im Hinblick auf die Dynamik der Tanzenden auf, die sich im Vergleich zu den Kindern auf Hans Thomas Gemälde mit viel wilderen und schwunghafteren, ekstatisch ausschweifenden Bewegungen zu drehen scheinen. Dieser Eindruck entsteht nicht nur durch eine Abwandlung der Körperhaltungen bzw. durch die Abbildung von vermehrt springenden und hüpfenden Figuren, sondern auch durch die geschwungenen und weichen Konturen ihrer Körperformen. Die stärkeren Bewegungen der Tanzenden korrelieren mit einem intensiveren Ausdruck von Lebendigkeit, Unbeschwertheit und Lebensfreude. Diese Lebensfreude, welche die Tanzenden zu versprühen scheinen, spiegelt sich gewissermaßen in den zum Einsatz gekommenen bunten und leuchtenden Farben wider: Während die Figuren selbst in kräftigen Blautönen gestaltet sind, ist der Hintergrund in einem grellen Rosaton ausgeführt.
Neben einem Kontrast der Farben herrscht in Sebastian Magnus´ Werk eine Spannung zwischen Abstraktion und Konkretion, Flächigkeit und Plastizität vor, wenn der grob vereinfachten Ausarbeitung von den Körperformen der Tanzenden eine gegenständlich-detaillierte Ausarbeitung ihrer Gesichter und Hände gegenübersteht, die allerdings erst aus der unmittelbaren Nähe zum Wandgemälde ersichtlich wird. Die Betonung von miteinander verbundenen und ineinander verschränkten Händen bringt umso mehr die grundlegende Botschaft des Gemäldes von menschlichem Miteinander und Zusammenhalt zur Geltung. Durch die detaillierte Darstellung von Gesichtern wird den Figuren ein bestimmter Grad an Individualität verliehen. Dass die Körperformen der Tanzenden mit weiteren naturalistischen Darstellungen verschiedenster Motive natürlichen oder menschengemachten Ursprungs ausgefüllt sind – mit Gemüse, einem Fahrrad, Blumen, einem Turmfalken und einem Plattenbau – wird für den Betrachter ebenfalls erst aus kurzer Distanz zum Wandgemälde erkennbar. Wie die Tanzenden sind somit auch Natur und Kunst, Menschen, Tiere und Pflanzen miteinander in Einklang gebracht. Zudem wird über Motive wie den Plattenbau ein direkter Ortsbezug zum Stadtteil Grünau hergestellt.
Laut Sebastian Magnus besteht die Intention der konkreten Darstellung von den Gesichtern und Gesten der Tanzenden unter anderem darin, ihre Emotionen besser zum Ausdruck zu bringen sowie einen stärkeren Bezug zur Vorlage zu bewahren. Dabei ist im Vergleich zur Vorlage ferner auffällig, dass Sebastian Magnus nicht nur Kindergesichter darstellt, sondern sowohl solche von Kindern als auch von Erwachsenen. Er erweitert den Kreis der Tänzer*innen, denn jede*r, unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht kann Teil dieser Gruppe sein. Die Gruppe der Tanzenden repräsentiert exemplarisch eine Gemeinschaft, deren Zusammenleben sich durch Solidarität, Hilfsbereitschaft und Toleranz auszeichnet, eine Gemeinschaft, wie Sebastian Magnus sie vor Ort am Familienzentrum in Grünau erleben konnte. Der Grundgedanke einer für alle Menschen offenen Gemeinschaft wird zusätzlich noch dadurch unterstrichen, dass der Kreis der Tanzenden nicht vollends geschlossen ist: Zwei Tanzende berühren sich lediglich leicht mit ihren Fingerspitzen, anstatt sich wie die anderen Tänzer*innen fest an den Händen zu halten. Es wirkt, als würde bewusst eine Lücke für neue potenzielle Tänzer*innen gelassen, die sich an dieser Stelle problemlos in den Kreis der Tanzenden einreihen und in die Gruppe integrieren können. Die Geste der sich berührenden Finger ist insofern wie eine Einladung zum Mitmachen lesbar, zur Aufnahme in die Gemeinschaft. Und tatsächlich wird selbst der Betrachter spielerisch in den Tanz eingebunden, wenn er sich zum Wandbild hin- und von ihm fortbewegen muss, um die Unterschiede in Nah- und Fernwirkung zu erkennen: Entweder er nimmt die abstrahierte Grundkomposition tanzender Figuren in ihrer Gesamtheit wahr oder er verengt den Fokus auf Details wie ihre Gesichter, Hände und die Motive auf ihren Körperteilen.
Sebastian Magnus legt Wert darauf, das Thema der Gemeinschaft inhaltlich in seinem Kunstwerk zu thematisieren, versucht aber auch auf formaler Ebene diesem Thema gerecht zu werden, indem er die Mitarbeitenden sowie die Kinder und Jugendlichen des Familienzentrums in den Entstehungsprozess seines Werks miteinbezieht. Die vielfältigen Motive, die auf den Körperteilen der Tänzer*innen abgebildet sind, basieren auf den Ideen, die der Künstler im Rahmen verschiedener Workshops zusammen mit den Mitarbeitenden oder den Kindern und Jugendlichen gesammelt hat.
Nach Abschluss des großen Fassadengestaltungsprojekts wurde das Wandgemälde am „Tag der Kunst am Familienzentrum“ eingeweiht. Neben dem Künstler, den Mitarbeitenden, Mitgliedern und Besucher*innen des Familienzentrums waren auch die Caritas Leipzig, die Dr. Hans Riegel-Stiftung und RTL-Kinderhaus auf der Abschlussveranstaltung anwesend, die direkt auf dem Platz vor dem vollendeten Wandgemälde stattfand. Abgesehen von Künstlergesprächen, einem Rückblick auf den Entstehungsprozess des Werks und der Präsentation der Ergebnisse aus den Vorbereitungsworkshops gab es als weiteren spektakulären Programmpunkt der Veranstaltung einen Livepainting-Workshop. Dafür wurden neben dem großen Wandgemälde zwei weiß beschichtete Platten aufgestellt, die jeweils als Fläche für ein Gemälde dienen sollten. Die erste Platte durfte frei von den Kindern und Jugendlichen aus dem Familienzentrum, aber auch von anderen Besucher*innen der Abschlussveranstaltung mithilfe von Sprühdosen, Schablonen, Markern und vielen weiteren künstlerischen Werkzeugen gestaltet werden. Den Umgang mit Spraydosen und weitere Kenntnisse über Graffiti-Techniken konnten die Kinder und Jugendlichen zuvor in einem speziellen Workshop zum Thema Street Art erlernen. Die zweite weiße Platte war dem RTL-Moderator und Künstler Jan Köppen vorbehalten, der sozusagen in einen direkten, spielerischen Malwettbewerb mit den jungen, kreativen Köpfen trat. Begleitet und unterstützt wurde die gesamte Livepainting-Aktion wiederum von dem Künstler des großen Fassadenwerks, Sebastian Magnus. Während dieses Workshops sind schließlich zwei Gemälde entstanden, die für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden: Das Gemälde, das in Kooperation der jungen Mitglieder des Familienzentrums und der Veranstaltungsbesucher*innen entstanden ist, wird voraussichtlich im Familienzentrum installiert und ausgestellt werden. Das Gemälde von Jan Köppen soll hingegen beim RTL-Spendenmarathon im November versteigert werden. Vorgesehen ist, dass die Einnahmen danach einer gemeinnützigen Organisation zugutekommen.