Unsere Welt verändert sich und wir entscheiden, wozu sie wird. Aber arbeiten wir auf eine heile Welt hin oder verschlimmbessern wir sie? Diesem Thema hat sich Telmo Pieper mit seinem Mural Frau mit Rechen gewidmet.
Der Kampf um die Idylle
Kunst ist oft ein Kontrast zur Realität. Vor allem, wenn man an das 19. Jahrhundert denkt. In der Zeit, in der sich Dampfmaschinen breit machten und die Industrialisierung Einzug hielt. So zogen auch viele Künstler aufs Land, wo sie das ursprüngliche, einfache Leben, abseits von der Großstadt, suchten. Auch heute träumen Menschen von einer besseren Welt. Telmo Piepers Frau mit Rechen (Abb. 1) zeigt auf, dass die Vorstellung eines Idylls heute mehr als jemals zuvor gefährdet ist. Aber die Botschaft des Murals ist nicht negativ: während die Menschheit dabei ist, die Welt zu zerstören, kämpfen Einzelne dagegen an und setzen sich aktiv ein, um sie zu erhalten. Als Vorlage diente Telmo Pieper das berühmte Gemälde Frau mit Rechen (Abb. 2.) von Jean-François Millet (1814-1875).
Die vermeintliche Idylle des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert
Millets Gemälde zeigt eine junge Frau, die Heu zusammenrecht. Sie ist bäuerlich gekleidet und hat den Kopf zu ihrer Arbeit geneigt. Direkt hinter ihr befindet sich ein Heuhaufen, im Hintergrund erkennt man weitere tüchtige Menschen bei der Arbeit. Die gesamte Szenerie ist ländlich. In Frau mit Rechen weist nichts auf Industrie oder Technik hin. Stattdessen zeigt das Gemälde die Landschaft von seiner schönsten Seite. Die Menschen haben eine Aufgabe an der frischen Luft und sie arbeiten in der Natur —ohne lärmende Maschinen, an die wir heute so gewöhnt sind. Das Gemälde liefert keinen Anhaltspunkt, wo diese ländliche Szene sich befindet. Genauso wenig lässt sich sagen, welche Jahreszeit oder gar welches Jahr dargestellt ist. Man erkennt nur, dass es Sommer ist: ein nicht zu unterschätzender Fakt, denn das Leben damals war von Jahreszeiten und vom Wetter bestimmt und das Tageslicht entschied über die Abläufe der Menschen. Es war genau diese Vorstellung, die viele der damaligen Künstler hat träumen lassen. Millet selbst wandte sich dem städtischen Leben ab und zog 1849 nach Barbizon, ein Dorf südlich vom Paris, wo er die bäuerliche Arbeitswelt zu seinem Thema machte.
Die Idylle von heute?
Millets Bild hat bei der Neuinterpretation von Telmo Pieper einige Veränderungen erfahren: So scheint es, als ob Pieper das Gemälde bis zu einer anatomischen Skizze reduziert und bei der Neuausgestaltung nahezu jedes Detail verändert hat. Denn die Haltung der Frau ist die Gleiche, ansonsten ist kaum etwas wie im Original. Beispielsweise hat sich das titelgebende Gerät der Frau mit Rechen verändert: sie schwingt keinen Rechen mehr, sondern fegt mit einer Art Besen den Boden. Die Heuhaufen in Millets Gemälde sind von zwei gelben Müllsäcken ersetzt. Die Vermüllung der Welt wird auch mit einem kleinen Detail thematisiert, denn vor der Frau liegt ein Plastikdeckel mit Strohhalm auf dem Feld. Hieran wird deutlich, dass unsere Umwelt und vermeintlichen Zufluchtsorte durch Verschmutzung massiv gefährdet sind. Die Frau baut nichts mehr an, sie versucht nur noch, für Ordnung zu sorgen. Damit, dass der Hintergrund ansonsten noch immer der gleiche ist, scheint Pieper unterstreichen zu wollen, dass es eigentlich noch derselbe Traum von Damals ist. Doch die Zeiten haben sich geändert und das nicht zum Guten für das Idyll.
Wie in Millets Bild ist die Frau noch jung, wirkt aber durch ihre Kleidung deutlich moderner und ist so in der Gegenwart zu verorten. Aber, anders als in der Vorlage, ist sie die einzige Figur im Werk. Pieper zeigt hier eine Frau, die mit ihrer Aufgabe alleingelassen wurde. Auch wenn man das Alter der anderen Menschen im Original nicht erkennt, ist davon auszugehen, dass Pieper zeigen möchte, wie sich vor allem die junge Generation mit dem Problem der Umweltverschmutzung beschäftigt. Dies sind Details, die nur im Vergleich wahrnehmbar sind, aber sein Mural kann die Botschaft auch ohne Vorlage vermitteln:
Wir blockieren uns immer mehr den Weg in eine utopische Zukunft, anstatt auf sie hin zu arbeiten. Und diejenigen, die sich um diese utopische Zukunft kümmern wollen, werden mit dem Chaos, das wir alle verursachen, allein gelassen. Pieper geht sehr genau auf das Original ein, um es weiterzuentwickeln. Wie sehr Pieper z.B. die junge Frau in eigene Bildsprache übersetzt, erkennt man, wenn man sie mit den Werken auf der Homepage von TelmoMiel, dem Künstlerduo, dessen eine Hälfte er bildet, vergleicht. Charakteristisch für das Künstlerduo sind die typischen Glitchelemente. Hierbei handelt es sich um Bildstörungen, die so aussehen, als ob beispielsweise Teile des Bildes verschoben währen. Einzelne Abschnitte im Bild sehen aus, als gehörten sie eigentlich zu einem anderen Gemälde, aber auf eine Art, dass es trotzdem stimmig bleibt. Man erkennt diesen Umstand besonders daran, dass die rechte Hand der Frau zweimal nebeneinander erscheint. Das Ende des Besens ist sogar dreimal in verschiedenen Positionen zu sehen, was den Eindruck eines Bewegungsablaufs vermittelt.
In was für einer Welt wollen wir leben?
Pieper wählt nicht den einfachen Weg für seine Neuinterpretation: Anstelle dem Bild von Millet nur Müll zuzufügen, sind alle Elemente vom Verschmutzungsthema durchdrungen. Damit zeigt er, worauf wir hinsteuern und spielt gleichzeitig darauf an, dass wir uns eigentlich ein anderes Ziel setzen sollten. Dabei nutzt er einzelne Details, um auf ganz unterschiedliche Facetten des Problems aufmerksam zu machen. Dies reicht von den Objekten und Änderungen, die er einfügt, bis hin zu den Elementen, die er auslässt. Man versteht Piepers Aussage schon allein durch seine Interpretation von Frau mit Rechen. Kennt man zusätzlich noch Millets Original, so wird die Botschaft umso deutlicher.
Internetquellen:
https://www.hans-riegel-stiftung.com/aktuelles/news-detailseite/walls-of-vision-ab-sofort-in-essen [Abruf: 29.04.2024]
https://telmomiel.com/outdoor/ [Abruf: 29.04.2024]