Überschrift

Was war das für ein Seminar?

Lily Blass, Studierende der Kunstgeschichte an der Universität Bonn, über das Projekt Walls of Vision

Wer auf der rechten Rheinseite nach Köln hineinfährt, kann aus der fahrenden Bahn einen Blick auf sie erhaschen: die uns allen vertraute Figur des Wanderers mit blondem Haar, Sonntagskleidung und Spazierstock steht nicht nur in der Hamburger Kunsthalle, sondern auch auf einer Hausfassade in Köln-Kalk auf seinem Felsen und hat uns den Rücken zugewandt (Abb. 1). Doch halt: verschwunden ist das bläulich-goldene Licht des Gemäldes und auch die Bergkämme und Wälder, die Caspar David Friedrich seinen Wanderer um 1818 überblicken ließ, sucht man in Köln vergeblich (Abb. 2). Hier wird die Szene von bedrückendem Grau beherrscht, der romantische Ausblick in die Natur ist der Kölner Skyline gewichen. Zwischen den Silhouetten von Groß St. Martin und Kölner Dom steigt dichter Industriequalm auf, sodass der Dunst, der sie verhängt, weniger ein verträumtes Nebelmeer, als vielmehr die Assoziation von schlechter Luft und Smog heraufbeschwört. Dass es sich bei dieser Neuinterpretation des romantischen Gemäldes um eine kritische handelt, wird nicht zuletzt durch ein weiteres beklemmendes Element deutlich. Ein großer Trawler ist am Ufer des Rheines gestrandet, umgekippt und evoziert einen beinahe apokalyptischen Eindruck. Was hat es damit auf sich?

Es handelt sich um das Vorzeigewerk des Projektes Walls of Vision der Bonner Dr. Hans Riegel-Stiftung. Es trägt den Titel Wanderer 4.0 und ist das erste der mittlerweile über 20 Werke umfassenden Streetart-Reihe, die sich von Hamburg bis Stuttgart über ganz Deutschland erstreckt.

  • Die Entwicklungsgeschichte von Graffiti und Street Art

    "L’art batard des rues mal famées“[1] – die Entwicklungsgeschichte von Graffiti und Street Art – auch bei Walls of Vision kann man von der Umkehrung der Kunstverhältnisse sprechen

    Streetart hat in den letzten Jahrzehnten eine massive Entwicklung erfahren, deren Ursprung in der Graffitibewegung der 70er Jahre, hauptsächlich in New York, liegen.[2] Mittlerweile ist die Streetart — ein weit gefächerter Begriff, über dessen klare Definition Forschende noch streiten — längst in Museen und Galerien vertreten. Als „Bastardkunst der verrufenen Straßen“, wie der französische Künstler und Fotograf Brassai sie einst nannte, lässt sich die Streetart heute nur noch in Ausnahmefällen beschreiben — vielmehr ist sie einer paradoxen Umkehrung unterlegen: es scheint, als habe gerade der Reiz des „verrufenen“ zu einer Kommerzialisierung geführt, die den weltweiten Kunstmarkt prägt.

    Auch bei den Walls of Vision kann man von einer Umkehrung der Kunstverhältnisse sprechen. Unter dem Leitsatz „Historische Kunst erhalten - Zukunftsdiskurs gestalten“ lässt die Dr. Hans Riegel-Stiftung Bonn seit 2019 Murals, die so genannten Walls of Vision, in ganz Deutschland entstehen. Ziel des Projektes ist es, jun­ge Menschen für die bildende Kunst zu begeistern und histori­sche Kunst­werke einer breiten Öffentlichkeit kostenlos und einprägsam zugänglich zu machen.

    Hierzu wird nicht die Streetart ins Museum gebracht, sondern bekannte Gemälde der gesamten Kunstgeschichte neu interpretiert und „straßentauglich“ gemacht. Mehrfach vertreten sind Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, die sich nicht nur wegen ihrer ikonischen Bekanntheit, sondern auch wegen kraftvoller Farbgebung und eingängiger Ikonographie für eine Reproduktion eignen. „Rückenfiguren erleben durch Social Media eine […] Renaissance“, so heißt es beispielsweise auf der Website des Projektes mit Bezug auf die vielfach auf Instagram geteilte Interpretation des Wanderer über dem Nebelmeer, der vielleicht berühmtesten Rückenfigur der Geschichte. Doch auch van Goghs, Monets und Hokusais Kunstwerke boten sich für eine auffällige, moderne Neuinterpretation an.

  • Nicht ohne die Kunstgeschichte!

    Nicht ohne die Kunstgeschichte! Zahlreiche künstlerische Eindrücke, die nicht immer gleich durchschaubar sind

    Die Walls of Vision - Reihe spannt einen noch viel größeren Bogen durch die Kunstgeschichte: Exemplare vom 16. bis 20. Jahrhundert sind vertreten, angefangen bei der Neuinterpretation eines Porträts von Gerhard Mercator aus dem Jahre 1574 in Duisburg bis hin zu Paul Kaysers Die Mittagsstunde (1904) in Hamburg und die Umsetzung von Umberto Boccionis Le Forze di una Strada (1911) durch die bekannte Streetart-Künstlerin MadC in Düsseldorf. Auch die private Kunstsammlung von Herrn Dr. Hans Riegel spielt eine essenzielle Rolle, denn einige der Murals, die in Bonn entstanden sind, basieren auf daraus entnommenen Originalwerken, so wie Case McClaims Interpretationen der Werke von Aert van der Neer in Poppelsdorf und Johannes Lingelbach am Bonner Talweg.

    Die künstlerischen Eindrücke sind folglich zahlreich und die Neuinterpretationen durch subtile Detailanpassungen nicht immer gleich durchschaubar. In Kooperation mit der Kunstgeschichte an der Universität Bonn haben Studierende es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, im Rahmen eines Praxisseminars die kunsthistorischen Hintergründe vieler der Walls of Vision zu analysieren und die aktuellen Bezüge zu erläutern, die sie alle enthalten.

  • Nicht nur für die Jugend, sondern mit der Jugend

    Nicht nur für die Jugend, sondern mit der Jugend

    Mit den Murals, die sowohl von kleineren Künstlerkollektiven als auch von international bekannten Streetart-Künstlern verwirklicht werden, soll vor allem auch ein jüngeres Publikum für Kunst begeistert werden. Aus diesem Grund ist es der Stiftung ein besonderes Anliegen, Schüler*innen am Entstehungsprozess teilhaben zu lassen: die Neuinterpretationen historischer Gemälde inspirieren den Kunstunterricht, Schüler*innen dürfen Modell stehen und teilweise basieren die Murals sogar auf ihren Entwürfen. Auch beim Wanderer 4.0 arbeiteten die Profis des Berliner Künstlerkollektivs Innerfields mit den Schüler*innen der Kaiserin-Theophanu-Schule Hand in Hand.[3]

    Doch auch anderweitig richten sich die Murals an jüngere Generationen. Themen und Motive aus historischen Vorlagen werden wiederverwendet und auf aktuelle Herausforderungen unserer Zeit angewandt: am häufigsten wird der Klimawandel thematisiert, wenn etwa die bevorstehenden Konsequenzen dadurch sichtbar gemacht werden, dass sie die vermeintliche Idylle eines impressionistischen oder romantischen Gemäldes zerstören — so unter anderem bei der Interpretation des Wanderers von Caspar David Friedrich, bei der, wie wir bereits gesehen haben, Industrie, Umweltkatastrophen und die Verrohung der Natur vorherrschen.

    Ein zentrales Motiv des Projektes ist auch die unbestreitbare und unaufhaltsam voranschreitende Präsenz von Technologie und Social Media im Alltag. Gerade den Einfluss auf junge Menschen bewerten die Murals kritisch, doch auch Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Ignoranz werden mit dieser problematischen Omnipräsenz assoziiert, wenn etwa Carl Spitzwegs Schmetterlingsfänger uns in Case Maclaims Neuinterpretation in Gelsenkirchen zwar ebenso verblüfft, aber mit einem Selfie-Stick statt mit einem Kescher deutlich schlechter ausgestattet, anblickt. Auch bei unserem Kölner Wanderer versteckt sich ein Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit von Technologie. Ein Detail, das wir bis jetzt unbeachtet gelassen haben, ist das Smartphone, das er in der Hand hält, als würde er ein Foto schießen wollen. Die Diskrepanz zwischen dieser verqualmten, bedrückenden Kulisse und ihrer vermeintlichen Fotogenität macht uns stutzig. Doch in einer Welt, in der Orte nach ihrer Instagrammability bewertet werden, während andere den Folgen unseres rücksichtslosen Umgangs zum Opfer fallen, ist die Ignoranz des Wanderers nicht überraschend. Im Gegenteil: sie spiegelt die oberflächliche, ja verfälschte Realität wider, die der Mensch online konstruiert hat um zu verdrängen, wie es tatsächlich um die Welt steht.

  • Ein Projekt mit Weitblick

    Ein Projekt mit Weitblick

    Die neuste Initiative von Walls of Vision ist das Mentoren-Projekt, das es jungen Kunststudent*innen ermöglicht, ihre Entwürfe mit der Unterstützung erfahrener Streetart-Künstler im öffentlichen Raum umzusetzen. So wurde bisher zum Beispiel die Flutkatastrophe von 2021 im Swisttal durch den Entwurf und die anschließende Ausführung des Nachwuchskünstlers Lukas Zimmermann von der Alanus Hochschule Bonn aufgearbeitet, nachdem die Gemeinde Swisttal mit der Frage an die Stiftung herangetreten war, ob ein solches Projekt auch für ein so aktuelles, ebenfalls klimabezogenes Thema vorstellbar wäre. Eine besonders erfreuliche Anerkennung für das Kunstprojekt, zumal es nicht nur seine Reichweite von rein urbanen auf ländliche Gegenden ausweitet, sondern auch, weil es ihm eine Wertschätzung entgegenbringt, die angesichts des erbitterten Kampfes um öffentliche Flächen mit der Werbeindustrie ein wichtiges Zeichen setzt. Vor wenigen Wochen wurde auch das zweite Mentoren-Projekt von Shaleen Faussner in Zusammenarbeit mit Innerfields realisiert. Es handelt sich hierbei wieder um die Neuinterpretation eines historischen Gemäldes, das an der Fassade des Bonner Finanzamtes wortwörtlich ein Tor in eine verwunschene Welt öffnet.

    Die Walls of Vision führen uns die Absurditäten des Lebens vor Augen und werden in den nachfolgenden Texten einzeln aus kunsthistorischer Perspektive analysiert. Die Realisierung der veränderten Details von Mural zu Gemälde kann zu einem flauen Gefühl im Magen führen, die Betrachtenden zum Schmunzeln bringen oder sie hoffnungsvoll stimmen. Der kreativen Umsetzung kunsthistorischer Vorlagen sind dabei, wie die nachfolgenden Texte wunderbar illustrieren, durch Walls of Vision keine Grenzen gesetzt. Die nächsten Projekte sind bereits in Planung, sodass die Streetart-Reihe in Gedenken an ihren Stifter Dr. Hans Riegel auch in Zukunft erweitert werden soll. Die Bahn in Köln setzt sich wieder in Bewegung, wir lassen den Wanderer hinter uns und können endlich die gesamte Walls of Vision-Reihe durch eine kunsthistorische Linse erleben…

[1] Brassai: Du mur des cavernes au mur d’usine, in: Minotaure: revue artistique et littéraire 1 (1933), S. 6.

[2] Reinecke, Julia: Streetart. Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2012, S. 17.

[3] https://www.wallsofvision.de/bisherige-werke/der-wanderer (Abruf: 30.05.2024).

[4] https://www.wallsofvision.de/bisherige-werke/swisttal (Abruf: 07.06.2024).

[Zitat]

Alexander Kukla, Programmleitung Bildende Kunst

Die Zusammenarbeit mit der Universität Bonn ist eine weitere, bedeutsame Erweiterung des Konzeptes: XXXXX