Die Metamorphose des Schmetterlingsfängers

Selfie-Stick statt Kescher

Blogbeitrag von Laura Masi, Studentin der Kunstgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn:

Street art und Graffiti sind Zeichen der Freiheit seine Meinung öffentlich zu machen, sein Umfeld aktiv mitzugestalten und auf politische und gesellschaftliche Missstände zu weisen. Obwohl sie im allgemeinen Kunstverständnis beeinflusst durch die Schlagzeilen konservativer Massenmedien als trivialer Vandalismus missverstanden werden, bilden sie dennoch die Grundlage und sind Ausgangspunkt eines breiten Kreises an gefeierten KünstlernInnen.

Werk: „Der Schmetterlingsfänger 4.0“ - Interpretation von Carl Spitzwegs „Schmetterlingsfänger“ in Gelsenkirchen

Case Maclaims Der Schmetterlingsfänger 4.0 führt Dir die Bestandteile einer professionellen Ausrüstung vor: Proviant, festes Schuhwerk und last but not least das Smartphone, denn das Abenteuer soll ja für Freunde und Familie festgehalten werden und Du möchtest doch bestimmt auch deinen Follower:innen den Moment nicht vorenthalten!

Bahnt man sich den Weg durch die verlassenen Straßen des Großstadtdschungels von Gelsenkirchen Richtung Ückendorf, erhebt sich nördlich der berühmt-berüchtigten Bochumer Straße unmittelbar an den Lidl-Parkplatz angrenzend das monumentale Street-Art-Mural Der Schmetterlingsfänger 4.0 (Abb. 1). Dieses Werk des Street-Art-Künstlers Andreas von Chrzanowski (*1979), auch bekannt als Case Maclaim, ist Teil des Revitalisierungsprojektes südöstlicher Gebiete Gelsenkirchens und wurde im Rahmen des Projektes Walls-Of-Vision der Dr. Hans-Riegel-Stiftung umgesetzt. Das auf etwa 200 qm angelegte Kunstwerk zieht nicht nur die Aufmerksamkeit der Passant*innen auf sich, sondern bietet ebenfalls eine künstlerische Neuinterpretation des gleichnamigen Werkes des deutschen Künstlers Carl Spitzweg (1808-1885).

Raus ins Freie!…but first let me take a selfie.

Das Mural zeigt eine Dschungelszenerie, in der sich inmitten dichter Flora und Fauna ein mit reicher Ausrüstung bewaffneter Schmetterlingsfänger befindet. Völlig regungslos, beinahe stocksteif, starrt er auf das Objekt seiner Begierde, nämlich zwei riesige blaue Schmetterlinge. Von der Schönheit des Momentes übermannt, ist ihm die Kinnlade heruntergeklappt und er schafft es kaum, den vorbereiteten Selfie-Stick in seiner Hand zu heben, um ein Foto des Spektakels vor ihm zu schießen. Das Bild lässt allerdings offen, inwiefern der Schmetterlingsfänger die Schönheit und Einzigartigkeit des Momentes in seiner vollen Ganzheit überhaupt realisiert, denn er wirkt, trotz all seiner Ausrüstung, unbeholfen, was durch seinen perplexen Gesichtsausdruck sowie durch seine runde, undurchsichtig wirkende Brille verstärkt wird. Begünstigt wird dies ebenso durch den zentral in der Bildkomposition angelegten Selfie-Stick, den der vermeintliche Abenteurer in seiner Hand hält. Hier kommt die Frage auf, was der eigentliche Grund für diesen Ausflug in die Natur ist: Lag die Priorität des Schmetterlingsfängers in der naturwissenschaftlich relevanten Erkundung oder in der sinnlichen Erfahrung der Natur? Vielleicht war das Hauptmotiv doch das Konservieren, also das fotografische Festhalten der Schmetterlinge?

Spitzweg. Vorbild und stiller Rebell?

Als Vorlage für das Mural diente Carl Spitzwegs (1808-1885) Werk Der Schmetterlingsfänger (Abb. 2). Sein Zeitalter war geprägt von den Auswirkungen der Restaurationszeit, die sich in die Periode ab dem Wiener Kongress von 1815 und dem Ausbrechen der Revolution von 1848 beläuft. Grundsätzlich widmete sich diese der Beibehaltung eines vom Adel bestimmten Regierungssystems, welches die Aufhebung der liberalen napoleonischen Reformen besiegelte und den Grundstein für die von Überwachungen und Zensuren geprägte Repressionsphase, dem sogenannten „System Metternich“, legte. Während dieser Zeit spaltete sich die Bevölkerung in zwei verschiedene Lager. Auf der einen Seite stand das Biedermeier, das sich von politischen Angelegenheiten abwandte, und sich auf ein friedliches Familienleben konzentrierte. Auf der anderen stand der Vormärz, der eine heimliche Oppositionsbewegung zur Schaffung eines vereinten deutschen Staates darstellte.

Aufgrund seiner genreähnlichen Bildthemen und hellen Farbpalette wird Spitzweg oftmals irrtümlich der Biedermeier-Strömung zugeordnet. Betrachtet man seine Werke jedoch genauer, erkennt man das eigentliche Konzept dahinter. Als Autodidakt machte sich Spitzweg aufgrund des ironischen Untertons in seinen idyllisch wirkenden Werken einen Namen. Diese vermitteln auf eine humoristische Art und Weise die eigentlich ernsthaften, gesellschaftskritischen Bildbotschaften. Ob in der romantisierten Darstellung der Überwachungskultur seiner Zeit, alter politischer und gesellschaftlicher Systeme oder, wie in unserem Beispiel, in dem schmunzelnden Kommentar zur menschlichen Unbeholfenheit und Naivität in dem Versuch, die Natur zu erfassen, gelang  es Spitzweg, den Geist seiner Zeit darzustellen.

Wie das Selfie den Kescher ablöste. Neue Methoden menschlicher Selbstbehauptung.

Die Wahl des historischen Gemäldes als Ausgangspunkt für ein urbanes Kunstwerk ist kein Zufall. Spitzwegs Schmetterlingsfänger ist ein Symbol für Sehnsucht nach dem Flüchtigen, dem Streben nach Schönheit und der Vergänglichkeit des Lebens, aber auch der Entfremdung des Menschen von der Natur.

Das Mural in Gelsenkirchen ähnelt dem Original in Szenerie, Lichtwirkung und Komposition, jedoch änderte Case Maclaim die Figur des Schmetterlingsfängers grundlegend, indem er sie an die heutigen Gepflogenheiten anpasste (Vgl. Abb. 3 und 4). Neben der Funktionskleidung   ersetzte der Künstler den Kescher durch einen Selfie-Stick und hängte seiner Figur eine zweite Kamera um den Hals. Der Kern des Werkes Spitzwegs wurde in seiner Neuinterpretation geschickt aufgegriffen und sogar gesteigert, indem der vermeintliche Naturforscher nun nicht mehr nur den Schmetterlingen hinterherjagt, sondern auch dem perfekten Selfie. Die Verwendung eines Selfie-Sticks weist auf die Selbstinszenierung und den Narzissmus unserer modernen Gesellschaft hin, in der flüchtige Momente nicht mehr lediglich erlebt, sondern zugunsten der Selbstdarstellung ausgenutzt werden.

Im Vergleich mit seiner Vorlage zeigt sich jedoch, dass diese Problematik bereits länger zu bestehen scheint. Unfähig, sich dem Leben in seiner Spontaneität und Vergänglichkeit zu stellen, unternimmt der Schmetterlingsfänger den kläglichen Versuch, die Schmetterlinge mithilfe des Keschers bzw. des Selfie-Sticks, zu erobern und zu konservieren. Der Vergleich beider Werke wirft die Frage auf, inwiefern sich unser Anspruchsdenken auf die Natur entwickelt hat und wie sich der Begriff des „Einfangens“ des Momentes heute definieren lässt.

Der Mensch findet zurück in die Natur… und das im Revitalisierungsgebiet von Gelsenkirchen-Ückendorf

Die Übertragung des kleinformatigen Gemäldes auf eine große Wandfläche verändert nicht nur die Dimension, sondern auch die Aussage des Bildes. So hat das im Museum ausgestellte Werk Spitzwegs eine andere Wirkung auf die Wahrnehmung der Öffentlichkeit als das monumentale und für alle zugängliche Wandgemälde am Lidl-Parkplatz in Gelsenkirchen (Abb. 5). Während das Originalwerk eine intime Szene zeigt, die den Betrachtenden wie durch ein Schlüsselloch die Welt des Schmetterlingsfängers zeigt, vermittelt das Mural seine Botschaft an das breite Publikum.

Die Entscheidung, das Wandbild in einem Problemviertel Gelsenkirchens anzulegen, ist bewusst gewählt, denn der Stadtteil soll mithilfe kultureller Projekte zu einem Kunst- und Kulturbezirk aufgewertet werden. Durch die Platzierung des Murals in einem vernachlässigten Stadtteil werden nicht nur die künstlerische Botschaft und der Bildungsgedanke verstärkt, sondern auch eine soziale und politische Dimension hinzugefügt.

Inmitten des Problemviertels erhebt sich das Mural von Case Maclaim wie ein bunter Lichtblick. Während die Kunst von vielen als Ausdruck von Kreativität und Hoffnung wahrgenommen wird, stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich die dringenden Herausforderungen des Viertels adressiert und ob sie den Bedürfnissen und Anliegen der Bewohner*innen gerecht wird. In einer Umgebung, die von Armut und Kriminalität geprägt ist, scheint Kunst oft wie ein Luxus zu wirken, der an dem eigentlichen Problem vorbeigeht. Das Street-Art Projekt mag als gut gemeintes Symbol der Hoffnung und der Vermittlung eines Bildungsgedankens dienen, doch bleibt die Frage offen, ob es dem Einen oder Anderen nicht auch oberflächlich als eine kosmetische Maßnahme erscheinen kann: einerseits, um das Problemviertel aufzuwerten und Touristen anzulocken sowie um Immobilienpreise zu steigern. Trotzdem stellt das Projekt einen künstlerisch wertvollen Beitrag im Andenken des Künstlers Carl Spitzweg und der ästhetischen Nutzung der Stadt dar.

Literatur und Internetquellen

Aschmann 2023

Aschmann, Birgit: Der Wiener Kongress und die Restaurationszeit, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 11.04.2023, URL: https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/revolution-1848-1849/519625/der-wiener-kongress-und-die-restaurationszeit/ [Abruf:15.02.2024]

Bleek 2023

Wilhelm Bleek: Der deutsche Vormärz, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 07.03.2023, URL: https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/revolution-1848-1849/516963/der-deutsche-vormaerz/ [Abruf: 15.02.2024]

Burghardt 2023

Eva Burghardt: Müllhäuser in Gelsenkirchen, So will die Stadt das Problem in den Griff bekommen, in: wa.de, 11.08.2023, URL: https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/muellhaeuser-in-gelsenkirchen-so-will-die-stadt-das-problemviertel-in-den-griff-bekommen-92450561.html [Abruf: 28.02.2024]

Sobotta 2020

Sobotta, Silke: Zum Innehalten, Betrachten, Staunen, Nachdenken, aber auch zu diskursen. Öffentliche Kunst regt an, in: Stadt Spiegel, 06.06.2020, URL: https://www.lokalkompass.de/gelsenkirchen/c-kultur/oeffentliche-kunst-regt-an_a1381140 [Abruf: 01.03.2024]