Urbanisierung des Sämanns

Von Bauern und Stadtbewohnern

Blogbeitrag von Lena Steffen, Studentin der Kunstgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn:

Ich studiere Kunstgeschichte im Master an der Universität Bonn und bin durch diesen Kurs in Kollaboration mit der Dr. Hans Riegel-Stiftung erstmals intensiver mit Fassadenkunst als solcher in Berührung  gekommen. Vor allem der Besuch vor Ort hat mir verdeutlicht, wie eingehend das überlebensgroße Werk auf den Betrachter wirkt. Bei dem von mir gewählten Walls of Vision-Werk der Künstlergruppe TelmoMiel gefällt mir deren moderne Interpretation, die dennoch dem Original genug Raum gibt und dem beliebten Sämann-Motiv Van Goghs neue Deutungsmöglichkeiten verleiht, außerordentlich gut. Durch die schillernde Farbgestaltung ist mir das Werk zudem direkt ins Auge gesprungen. Das strahlende Gelb, welches auch von Van Gogh gern verwendet wurde, wertet die Umgebung selbst an grauen Regentagen auf und hinterlässt ein Gefühl der Zuversicht.

Werk: „Der Sämann“ - Interpretation des historischen Kunstwerks von Vincent van Gogh

Die Städte wachsen, die Urbanisierung schreitet voran, und man könnte meinen, sie sei nun auch in der Kunstwelt angekommen. Dies lässt jedenfalls die Neuinterpretation des berühmten Gemäldes Der Sämann von Vincent van Gogh vermuten, die an einer Schulwand in Essen angebracht ist. Das Mural hat mehr mit der Vorlage gemein, als sie auf den ersten Blick vermuten lässt.

Soll das etwa ein Sämann sein?

Vincent van Gogh (1853-1890) gilt als einer der bekanntesten Maler der Moderne, jeder ist schon einmal in irgendeiner Form mit seinen Werken in Berührung gekommen.   Daher ist es nicht verwunderlich, dass eins seiner meist gemalten Motive für das Walls of Vision Projekt der Dr. Hans Riegel-Stiftung gewählt wurde, um von dem aus Rotterdam stammenden Künstlerduo TelmoMiel 2020 an einer Essener Schule verewigt zu werden. Die großformatige und farbintensive Neuinterpretation des Sämanns (Abb. 1) ist unübersehbar, wenn man die Engelbertstraße befährt. Auf einer rund 170 m² großen Fläche tritt einem aber nicht nur die vertraute Gestalt von van Goghs Sämann entgegen, sondern eine gänzlich neue Person. Wir sehen einen Mann mittleren Alters im Profil, dessen äußere Erscheinung sich grundlegend von der eines arbeitenden Landwirts unterscheidet. Mit der hellen Kleidung wirkt er wie einem sommerlichen Film des letzten Jahrhunderts entsprungen. Forschen Schrittes geht er seines Weges, ohne die leicht gebeugte Körperhaltung des ursprünglichen Sämanns zu übernehmen.

Miel Krutzmann, der allein an der Ausführung dieses Werks arbeitete, bedient sich eines für das Künstlerduo inzwischen sehr charakteristischen Stilmittels und verleiht seiner Figur mehrere Arme, die sich an verschiedenen Positionen eines Bewegungsablaufs zu befinden scheinen. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass der Mann in städtischer Kleidung eine Schale vor sich trägt und daraus Saatgut verteilt. Dabei variiert der Zustand seiner Kleidung, sodass entweder der Ärmel des Hemdes hochgerafft ist oder aber Hemd und Jacke bis hinunter zum Handgelenk reichen. Handelt es sich womöglich um eine dargestellte Verwandlung vom Landwirt zum Städter oder umgekehrt?

Die Neuinterpretation wirft einige Fragen auf, zumal der Unterschied zu van Goghs ursprünglichen Sämann groß ist. Dieser ist übrigens nach wie vor im Wandgemälde enthalten, wird aber von seiner moderneren Variante überlagert. Weitere wichtige Elemente, wie die großformatige Sonne oder die Zweige des Baumes sind ebenfalls vorhanden, wobei sich zusätzlich Mühe gegeben wurde, den wirbelnden und charakteristischen Pinselduktus van Goghs auf die Wandfläche zu übertragen.

Ein entscheidender Unterschied liegt allerdings bei der Farbgebung: Das Hell- und Dunkelverhältnis wurde umgekehrt, sodass die Landschaft im Hintergrund in Blau-, Braun-, und Grüntönen im starken Kontrast zu dem nun hell ausgekleideten Sämann steht, der von jetzt an alle Aufmerksamkeit bekommt.  Doch warum wird um seine Gestaltung so viel Aufhebens gemacht?

Zur Rezeptionsgeschichte des Sämanns: van Gogh liebte Millet

Im Zuge des Walls of Vision Projekts entstand einige Fahrminuten von der Engelbertstraße entfernt ein weiteres Wandgemälde desselben Künstlerduos. Als Vorbild diente hierbei Frau mit Rechen von Jean-François Millet (1814-1875), für den van Gogh große Bewunderung hegte, weshalb er ihn in dessen Briefwechseln ganze 182-mal direkt erwähnt. Millet, der Sohn eines Landwirts war und zur Kunstschule Barbizon gehörte, stellte in seiner Malerei vorrangig die hart arbeitende ländliche Bevölkerung dar. Damit stand seine Motivwahl im starken Kontrast zum vorherrschenden, traditionell romantischen Stil, was dazu führte, dass er nicht nur Zuspruch für seine Kunst erntete. Millet beschäftigte sich in seinem Schaffen mehrere Male mit dem Sämann-Thema (Abb. 2), in dem er vor allem den kraftvollen Bewegungsablauf betonte.

van Gogh teilte Millets Faszination für die Einfachheit und Ehrlichkeit der dargestellten Thematik. Und wie sein Vorbild widmete er sich dem Motiv des Sämanns oft; insgesamt 30 Variationen finden wir in seinem Œuvre. Im September 1880 schrieb er beispielsweise an seinen Bruder:

„Was den Sämann betrifft, so habe ich ihn jetzt fünfmal gezeichnet, zweimal klein, dreimal groß, und doch werde ich noch einmal darauf zurückkommen, diese Figur verfolgt mich so sehr.“

Während van Gogh seine ganz eigene, unverkennbare Bildsprache entwickelte, gestaltete er auch den Sämann stets auf neue Art und Weise (Abb. 3). Neben seinem lebhaften Pinselduktus brachte er Farben ins Spiel, die bei Millet so nie den Weg auf die Leinwand gefunden hatten. Dieser hatte sich nämlich auf Erdtöne beschränkt, als wären die Bauern selbst aus Lehm geschaffen worden und mit der Natur rings um sich herum verbunden. Doch van Gogh spielte vermehrt mit Kontrasten und brachte so beispielsweise einen leuchtend gelben Sonnenuntergang am Horizont mit ein. Er kombinierte das einfache Bildmotiv mit kraftvollen Farben, wie es bei einem weiteren (Abb. 4) der Fall ist. Hier tritt der Sämann soweit in den Vordergrund, dass seine Beine auf Kniehöhe vom Bildrand abgeschnitten werden. Die dunkle Silhouette grenzt sich deutlich von den schillernden Farben von Sonne, Feld und Himmel im Hintergrund ab. Die an sich schlicht gehaltene Bildkomposition sowie das Darstellen der Hauptfigur in der Bewegung erinnern noch stark an Millets realistische Ausführungen der Bildidee, die Farbgestaltung hingegen betont neue Aspekte im Motiv.

So ist es beispielsweise mit der biblischen Deutung des Motivs und des sinnbildlichen Aussäens von Leben. Die voluminöse Sonne umschließt den Kopf der Figur geradezu wie ein strahlender Nimbus, wodurch der bloße Bauer zu einem Heiligen emporgehoben wird und mit seiner Tätigkeit zum Erhalt des Lebens beiträgt. Mit dieser Ausgangssituation kommen nun die Ideen des Künstlerduos TelmoMiel ins Spiel, denn auch sie vermögen es, ebenso wie van Gogh, einem realistischen Motiv eine neue, modernere Ebene hinzuzufügen, ohne die ursprüngliche Intention des Künstlers zu verdrängen. Dabei bleibt die Tätigkeit des Bauern als „Erhalter des Lebens“ und seine biblische Glorifizierung weiterhin bewahrt, obwohl die Figur sich in einer Verwandlung zum Städter befindet. Auch wenn das städtische Leben heutzutage Abstand zu den manuellen, landwirtschaftlichen Aufgaben genommen hat und van Goghs Sämann in seiner nun städtischen Umgebung fremd wirken würde, führen die modernen Anpassungen TelmoMiels zu einem Zusammenwirken beider Welten. Der Städter schreitet selbstbewusst voran, wobei er die von den Landwirten initiierte Tätigkeit des Säens fortführt und weiterhin ehrt.

Es besteht Hoffnung auf zukünftige Kunstprojekte

Durch zugehörige Workshops und die Bemalung weiterer Wände der Schulgebäude wurde das Projekt von den Schüler*innen begleitet und für van Goghs Kunst begeistert. Nach disesem Kunstprojekt besteht Hoffnung auf eine Fortsetzung der Fassadengestaltung an einem der Gebäude auf dem Schulgelände durch die Walls of Vision-Initiative. Eine weitere Wandmalerei ist nicht undenkbar und wird dank der positiven Reaktionen womöglich in Zukunft realisiert, wobei die Frage besteht, für welches künstlerische Vorbild man sich diesmal entscheiden würde. Der Sämann van Goghs bot sich als Klassiker der Moderne an und wurde in seiner Ausführung nur so modernisiert, dass es Interesse weckt. Würde man für ein weiteres Projekt das gleiche Schema bedienen oder doch etwas Neues wagen? Diese Fragen bleiben noch offen, aber mit etwas Glück kehrt TelmoMiel nochmals an die Schule zurück und verwandelt eine weitere leer gebliebene Wand in ein farbenfrohes Kunstwerk.

Literatur und Internetquellen:

Grand, Patrick: Reading Vincent Gogh. A thematic Guide to the Letters, Edmonton 2016

Hunt, Christopher: Millet and Modern Art. From Van Gogh to Dalí and Jean-François Millet. Sowing the Seeds of Modern Art (exhibition review), in: Nineteenth-Century Worldwide 20, 2021, H. 1, S. 155 – 170

Projektseite der Schule: https://schuleamsteelertor.de/projekte/wall-of-vision [Abruf: 13.02.2024]

Sund, Judy: The Sower and the Sheaf: Bibliocal Metaphor in the Art of Vincent van Gogh, in: The Art Bulletin 70, 1988, H. 4, S. 660-676

Van Gogh Letters: https://vangoghletters.org/vg/letters/let157/letter.html [Abruf: 15.02.2024]

Walls of Vision: https://www.wallsofvision.de/bisherige-werke/van-gogh-millet-treffen-telmo-miel [Abruf: 15.2.2024]