In Duisburg verwandelt das Künstlerkollektiv Innerfields das 450 Jahre alte Portrait des berühmten Gelehrten Gerhard Mercator in das eines jungen Mädchens. Was die beiden gemeinsam haben, verstehen die Künstler spielend leicht darzustellen.
Selbst wenn es das Treiben des gegenüberliegenden ‚Knüllermarktes‘ hören könnte, es würde das Mädchen nicht aus der Ruhe bringen. Dieser Eindruck wird den Passanten beim Anblick des Murals an der Nordfassade des Gebäudes an der Ecke Tibistraße / Großer Kalkhof vermittelt. Wie hinter einem violetten Farbfilter sitzt dort ein Kind mit langen Haaren, gekleidet in Sweatshirt und Hose, auf einem Seil. Es hat sich vom Betrachter ab- und einem Globus zugewandt, der innerhalb eines ovalen Rahmens aufgebaut ist. Seine gesamte Körpersprache vermittelt volle Konzentration auf die Weltkugel: den Oberkörper leicht geneigt, hält das Kind sie mit den Händen fest und vermisst sie gleichzeitig mit Hilfe eines Zirkels. Aus ihrer Oberfläche sprießen junge, grüne Blätter, die ihr mehr Plastizität verleihen. Beinahe wirkt sie, als sei sie aus einer Computersimulation entnommen worden. Die Halterung des Globus dagegen verschmilzt mit dem Hintergrund und wirkt zweidimensional, während der Globus selbst rund aus dem Rahmen heraustritt und eine spannende Dynamik zwischen den Bildebenen entstehen lässt (Abb. 1). Nicht umsonst liegt das Augenmerk der Szene auf ihm: er ist das Bindeglied zwischen dieser Neuinterpretation und dem ursprünglichen Werk.
Vom 16. ins 21. Jahrhundert: Eine wahre Zeitreise
Die Künstler und die Dr. Hans Riegel-Stiftung blicken bereits auf eine jahrelange Zusammenarbeit zurück: Diese ist die vierte Wall of Vision, die das Künstlerkollektiv Innerfields für das Projekt verwirklicht. Während andere Murals mit den Werken von Claude Monet, Caspar David Friedrich und Katsushika Hokusai korrespondieren, geht die Reise in die Vergangenheit in Duisburg viel weiter — und zwar bis in die späte Renaissance hinein. Als Vorlage diente Innerfields dafür der Kupferstich des begnadeten niederländischen Künstlers Hendrick Goltzius (1558-1617), der darin vor nicht weniger als 450 Jahren den Kartografen und Erfinder des Atlas, Gerhard Mercator (1512-1594), portraitierte. Er stellte den Gelehrten in entsprechender Kleidung und Kopfbedeckung sowie einem Bart dar, der dem Leonardo da Vincis Konkurrenz machen möchte. Ähnlich wie das Mädchen ist auch Mercator mit Zirkel und Globus ausgestattet. Letzteren hat er sogar selbst entworfen: seine Darstellung der Welt als Kugel ist zwar noch leicht fehlerhaft, nichtsdestotrotz revolutioniert sie aber die Navigation der Seefahrt, indem sie die Berechnung der Routen vereinfacht.[1]
Zurück in die Zukunft: Was hat sich geändert?
Wie in der kunsthistorischen Vorlage befindet sich der Globus im Mural noch innerhalb des ovalen Bildrahmens des ursprünglichen Portraits, das Kind aber hat sich auf das Tau gesetzt und greift von außen in den Bildrahmen hinein. Fast so, als habe es sich heimlich am Schreibtisch seines Großvaters zu schaffen gemacht — und tatsächlich: Innerfields selbst betiteln ihr Werk auf Instagram mit dem Wort „generation“. Was allerdings zunächst wie ein kindliches Spiel wirkt, offenbart auf den zweiten Blick tiefere Bedeutungsebenen:
Es sind große Veränderungen, die Innerfields am Originalwerk vorgenommen hat. Bei beiden Darstellungen ist die dem Betrachter zugewandte Seite des Globus von jeweils zeitgenössischer Importanz: während 1576 noch die Seefahrt und die durch sie ermöglichte Entdeckung unbekannter Teile der Welt im Vordergrund stand, die dem menschlichen Streben einen Sinn verlieh — in Goltzius Kupferstich nicht zuletzt durch die Beschriftung Amerikas, des neuen Kontinenten, hervorgehoben —, lesen wir auf dem Globus im Mural die griechischen Worte für „Atlantik“ und „Ozean“. Im Gegensatz zu den markant sich von der Meeresoberfläche abhebenden Kontinenten auf Mercators Globus sind die Konturen im Mural nur noch schemenhaft erkennbar — oder sind es in Anbetracht der drohenden Konsequenzen des Klimawandels die Grenzen des Atlantiks, die sich nicht mehr klar identifizieren lassen?
Schwer zu sagen, zumal der Schattenwurf der aus der Weltkugel sprießenden Blätter der Deutlichkeit nicht zuträglich ist, wohl aber ein kreatives, ja verspieltes Element des Mural darstellt, das zuversichtlich stimmt. Die Ikonographie der saftigen grünen Blätter ist eindeutig: auf eine grüne Zukunft darf gehofft werden. Die verträumte Frage drängt sich auf, ob das Mädchen mit dem Zirkel hochkonzentriert die Erde vermisst, um sie ringsum mit frischem Grün zu bepflanzen?
Mercator hält den Globus zwar fest, hat den Blick jedoch aus dem Bildraum heraus gewandt. Der Globus ist für ihn zwar ein essenzielles, aber doch nur ein Attribut, während das Kind im Mural hochkonzentriert damit interagiert — es hat schließlich noch viel zu tun. Ein Detail, das den häufigen Konflikt beidseitiger Überlegenheitsgefühle zwischen Generationen thematisiert, aber keineswegs parteiisch beurteilt. Gerhard Mercator hatte die Welt zum Zeitpunkt seiner Portraitierung bereits nachwirkend verändert und die Probleme seiner Zeit vereinfacht: noch heute wird die sogenannte Mercator-Projektion in See- und Luftfahrt sowie für Google Maps verwendet.[2] Das von Innerfields portraitierte Mädchen steht als Symbol für heutige und zukünftige Generationen noch vor ihrer weltbewegenden Aufgabe.
Nichts wird dem Zufall überlassen
Viele Entwürfe und Änderungen hat es gebraucht, bis die jetzige Version des Murals feststand, so ein Vertreter der Stiftung. Immerhin standen bei der Neuinterpretation des Kupferstichs von 1574 aktuelle und prekäre Fragen im Raum: Welche Figur könnte heutzutage den — im wahrsten Sinne des Wortes — alten weißen Mann ersetzen? Sollte ein blondes Mädchen dargestellt werden, oder bietet sich ein herkunftsmäßig nicht zuzuordnendes Erscheinungsbild an? Soll überhaupt erkennbar sein, dass es sich unbedingt um ein Mädchen handelt? Vor welchen Aufgaben steht diese neue Figur stellvertretend für heutige Generationen?
Die Grübelei hat sich gelohnt, denn das Ergebnis zollt sowohl dem Original als auch der Gegenwart Respekt. Bei Ersterem spielt nicht zuletzt der Standort in Duisburg eine Rolle. Dorthin war Mercator mit seiner gesamten Familie ausgewandert, um dem Vorwurf der Ketzerei zu entgehen, der ihm in seiner Heimat, den Niederlanden, drohte.[3] Ein Vorwurf, mit dem zu dieser Zeit viele Wissenschaftler seines Bereichs zu kämpfen hatten: gesellschaftliche Umstürze, wie etwa die Reformation durch Martin Luther und die Veröffentlichung der Beweise für ein heliozentrisches Weltbild durch Nikolaus Kopernikus drohten, die Machtstrukturen der Welt grundlegend zu verändern. Mit allen Mitteln versuchte die Kirche, diese Veränderungen aufzuhalten. Für Gerhard Mercator hatte die Geschichte ein gutes Ende, denn in Duisburg genoss er mehr Freiheit und durfte Mathematik, Geometrie und Kosmologie an dem Gymnasium lehren, das bald darauf die Duisburger Universität beherbergte.[4] Noch heute befindet sich unweit von der Hommage, die Innerfields für Mercator entstehen ließ, die Universitätsstraße.
Die Auseinandersetzung mit Innerfields Mural zeigt: Jede Generation ist mit ihren eigenen Herausforderungen konfrontiert und muss lernen, mit ihnen umzugehen. Was über alle Generationen hinweg bestehen bleibt und sie verbindet, ist unsere wandelbare und schützenswerte Welt. Heutzutage aber dürfen alle, Groß und Klein, daran mitwirken.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Szpiro 2012, S. 52.
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. Bodenstein 2012, S. 50.
[4] https://www.wallsofvision.de/bisherige-werke/mercator-duisburg [Abruf: 07.04.2024]
Literatur und Internetquellen:
Bodenstein, Wolf: Die kartographischen Leistungen des Gerhard Mercator (1512-1594), in: Cartographica Helvetica 46 (2012), 50-51
Rijksmuseum Website, Sammlung: http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.438398 [Abruf: 07.04.2024]
Szpiro, George: Die ganze Welt zu Papier bringen. zum 500. Geburtstag des Kartographen Gerhard Mercator, in: Cartographica Helvetica 46 (2012), S. 52
Walls of Vision Website, Mercator: https://www.wallsofvision.de/bisherige-werke/mercator-duisburg [Abruf: 07.04.2024]