Das Wandgemälde des Studio Vierkant im Norden Stuttgarts wagt mithilfe kunsthistorischer Vorbilder einen Blick in die Zukunft und appelliert an Betrachtende, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Denn wo die Zukunft ist, sind wir!
In Zeiten des Wandels
Unweit vom Nordbahnhof in Stuttgart tritt das Werk Die Eisenbahn des Designateliers Studio Vierkant an einer Hausfassade in Erscheinung. Fährt man in der U-Bahn entlang der Nordbahnhofstraße in Richtung des Hauptbahnhofs, kann man einen Blick auf das Wandgemälde erhaschen (Abb. 1). Doch ein flüchtiger Anblick lässt die Bedeutungstiefen des Kunstwerkes kaum erahnen.
Mit einem schlafenden Welpen und einem aufgeschlagenen Buch im Schoß, blickt die junge Dame in der linken Bildhälfte nicht etwa auf die Seiten ihrer Lektüre, sondern starrt stattdessen die Betrachtenden an (Abb. 2). Das Mädchen neben ihr hat diesen hingegen den Rücken gekehrt, während sie die Szene jenseits des Zauns beobachtet. Den linken Arm erhoben, die Hand noch um einen der Stäbe geschlungen, scheint es so, als hätte das kleine Mädchen den Zaun aufgebrochen – oder war es doch, wohl wahrscheinlicher, eine nicht darstellbare Macht? Was verbirgt sich hinter dem Zaun im farbenfrohen Bildhintergrund? Spätestens jetzt sollten den Betrachtenden einige Fragen vorschweben.
Zukunftsvisionen
Die Eisenbahn von Studio Vierkant kompiliert die Werke zukunftsweisender Künstler, indem dem gleichnamigen Gemälde Édouard Manets (1832–1883) Elemente aus dem Œuvre Robert Delaunays (1885–1941) hinzugefügt werden. Damit wird der Wandel in der Kunst mit Blick auf die Entstehung der Moderne und Abstraktion vor Augen geführt. Die verbogenen Stäbe des Zauns vor dem abstrakten Hintergrund würdigen den Fortschritt und die Errungenschaften der vorangegangenen Künstler*innen. Gleichzeitig symbolisiert der aufgebrochene Zaun die Befreiung von Konventionen und die Willensstärke, trotz Ungewissheit und Hindernissen seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei fungiert der farbenfrohe Hintergrund als hoffnungsvoller Lichtblick; noch nicht eingetroffen, ist die Zukunft stets wandelbar. Sie eröffnet unendliche Möglichkeiten, auch in Zeiten des Auf- und Umbruchs.
Zurück in die Zukunft von 1873
1873 schuf Édouard Manet das Ölgemälde Le chemin de fer, zu Deutsch Die Eisenbahn (Abb. 3). Manets Werk fungierte für das Studio Vierkant, wie der Name bereits verrät, als zentrale Vorlage für das Wandgemälde in Stuttgart. Kurz vor der Entstehung des Gemäldes, von 1870 bis 1871, tobte der Deutsch-Französische-Krieg, Paris wurde belagert, und Manet diente in der Nationalgarde.[1] Als nach dieser turbulenten Zeit der Salon der Pariser Akademie 1872 wieder stattfand, stellte Pierre Puvis de Chavannes sein allegorisches Gemälde Hoffnung aus (Abb. 4).[2] Das Werk, welches stilistisch von den künstlerischen Konventionen der Akademie abwich, wurde im Salon kritisiert, von einigen jüngeren Künstlern und Künstlerinnen jedoch gepriesen, stellte es doch einen Hoffnungsschimmer nach den stürmischen Zeiten des Krieges und Verlustes dar.[3] Unter ihnen waren Berthe Morisot (Abb. 5) und Édouard Manet, die beide das allegorische Gemälde rezipierten, ihre Werke jedoch im urbanen, vom Krieg gezeichneten Paris verorteten.[4] Die titelgebende Eisenbahn sucht man im Gemälde Manets allerdings vergeblich. Stattdessen füllt Dampf großflächig den Bereich der Bahngleise jenseits des Zauns und verweist auf einen ein- oder ausfahrenden Zug.[5] Der Titel richtet den Blick auf den technischen Fortschritt und die moderne Welt, der immaterielle Dampf versinnbildlicht die nicht fassbare und daher mit Hoffnung erfüllte Zukunft.
Manet macht der Moderne Dampf
Die Eisenbahn war das einzige Gemälde Manets, das von der Jury zum Pariser Salon im Jahr 1874 akzeptiert wurde.[6] Dort stieß das Werk auf harsche Kritik und wurde aufgrund der flächigen, skizzenhaften Malweise zum Gegenstand zahlreicher Karikaturen: Der Zaun wurde in ein Gefängnisgitter umgewandelt, die Mimik der Figuren überzogen, der Hund als Seehund parodiert.[7] Motivische Undeutlichkeit und eine freie Pinselführung waren für die meisten Salonbesuchenden zu dieser Zeit keine Stilmerkmale, sondern eher Hinweise auf fehlende malerisch-technische Fähigkeiten.
Heute gilt Manet als ein Vorreiter der Moderne. Angesichts seines Individualstils lässt er sich keiner einzigen Kunstströmung eindeutig zuordnen. Manet setzte sich über kompositorische und technische Konventionen hinweg, widmete sich neuen Motiven, und kreierte noch nie dagewesene Sujets durch die Verschmelzung der etablierten Gattungen der Malerei, wie Genre und Porträt.[8] Sein malerisches und ästhetisches Verständnis war bahnbrechend für seine Zeit.
Delaunays Fenster in die Zukunft
Der Hintergrund des Wandgemäldes in Stuttgart ist kein zufälliges Arrangement farbenfroher, geometrischer Formen. Er bezieht sich bewusst auf Robert Delaunays Serie Fenêtres, die sogenannten Fensterbilder. Die um die 20 Werke umfassende Serie entstand zwischen 1912 und 1913 und markiert den Anfang seiner Auseinandersetzung mit der Abstraktion (Abb. 6).[9] In der Werkserie stellt Delaunay die Wirkung des Lichtes dar, malerisch in Farben und Formen zersplittert: dass es sich bei dem Motiv um den Ausblick auf den Eiffelturm und die Dächer von Paris handelt, ist vielen bei einer ersten Betrachtung häufig wohl nicht ersichtlich.[10]
Ist der Beginn der Abstraktion an den Anfang des 20. Jahrhunderts zu setzen, so entstand diese künstlerische Entwicklung nicht von heute auf morgen. Tendenzen der Abstrahierung lassen sich bereits im 19. Jahrhundert erkennen, in der zunehmenden Abwendung von der Mimesis (Naturnachahmung) zugunsten künstlerischer Mittel und deren ästhetischer Wirkkraft, beispielsweise in der Kunst des Impressionismus oder früher noch: in der Kunst von Édouard Manet. Robert Delaunay, als ein Wegbereiter der abstrakten Kunst, stützte sich auf jene künstlerischen Errungenschaften, die im 19. Jahrhundert, mitunter von Manet, erreicht wurden. Durch die Verbindung von Manets Gemälde im Vorder- und Delaunays Werk im Hintergrund des Wandgemäldes, wird der aufeinander aufbauende, stetige Wandel in der Kunst visualisiert. Ferner wird verdeutlicht, dass jede und jeder an der Gestaltung der Zukunft mitwirken kann.
Jetzt oder nie!
Ein jedes Kunstwerk denkt die Betrachtenden mit.[11] Insbesondere Rückenfiguren übernehmen eine wichtige Funktion in der Betrachterwahrnehmung, da sie eine verstärkte Identifizierung mit den dargestellten Figuren ermöglichen.[12] Die Rückenfigur des Mädchens im Stuttgarter Wandgemälde spiegelt die Zielsetzung des „Walls of Vision“-Projekts hervorragend wider: es werden die jüngeren Generationen angesprochen, jene, die die Zukunft in der Hand haben. Der direkte Blick der jungen Dame im Wandgemälde appelliert ebenso an die Betrachtenden des Wandgemäldes, sich im Hier und Jetzt für die eigene und gemeinsame Zukunft einzusetzen. Ganz nach dem Motto: The future is now. Letztendlich blickt Studio Vierkants Die Eisenbahn zurück auf die kunsthistorische Vergangenheit, um ein buntes, hoffnungsvolles Bild der Zukunft zu malen. Jede Person zählt, denn auch ein Individuum kann den Lauf der (Kunst-)Geschichte ändern.
Anmerkungen
[1] Vgl. Wilson-Bareau 1998, S. 26.
[2] Vgl. ebd., S. 34.
[3] Vgl. ebd., S. 38–41.
[4] Vgl. ebd., S. 41.
[5] Vgl. Roos 2012, S. 88.
[6] Vgl. ebd., S. 86.
[7] Vgl. Wilson-Bareau 1998, S. 49–55.
[8] Vgl. Stevens 2012, S. 28.
[9] Vgl. Franz 2012, S. 60–62.
[10] Vgl. ebd.
[11] Vgl. Kemp 1992, S. 22.
[12] Vgl. Rzucidlo 1997, S. 27, S. 33.
Literatur
Franz 2012
Franz, Erich: Simultane Bewegung. Robert Delaunays Fensterbilder, in: Fresh Widow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp, hg. von den Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen (Ausst.-Kat. Düsseldorf, Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, 31. März bis 12. August 2012), Düsseldorf 2012, S. 60–72
Kemp 1992
Kemp, Wolfgang: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992
Roos 2012
Roos, Jane Mayo: Manet and the Impressionist Moment, in: Dolan, Therese (Hg.): Perspectives on Manet. Farnham/Burlington 2012, S. 73–96
Rzucidlo 1997
Rzucidlo, Ewelina: Caspar David Friedrich und Wahrnehmung. Von der Rückenfigur zum Landschaftsbild (Kunstgeschichte Band 59; zugl. Berlin, Freie Univ., Diss., 1997), Münster 1998
Stevens 2012
Stevens, Maryanne: Manet: Portraying Life. Themes and Variations, in: Manet: Portraying Life, hg. von Beatrice Güllstrom (Ausst.-Kat. Toledo, Museum of Art, 4. Oktober 2012 bis 1. Januar 2013; London, Royal Academy of Arts, 26. Januar bis 14. April 2013), London 2012, S. 14–33
Wilson-Bareau 1998
Wilson Bareau, Juliet: „The Railway“ and Its Context, in: Manet, Monet, and the Gare Saint-Lazare, hg. von Juliet Wilson-Bareau (Ausst.-Kat. Paris, Musée d’Orsay, 9. Februar bis 17. Mai 1998; Washington, National Gallery of Art, 14. Juni bis 20. September 1998), New Haven/London 1998, S. 9–63.