Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine im Jahr 2022 wird die Unterscheidung zwischen russisch und ukrainisch in der westlichen Welt nicht nur als relevant, sondern auch als notwendig anerkannt. Das Mural [1] Absent in Berlin verdeutlicht diese gesellschaftliche Entwicklung auf eindrucksvolle Weise.
Wyschywanka in Berlin?
Ein regnerischer Oktobernachmittag in Berlin-Wedding. In der Wiesenstraße 45 ist es leise; nur das Plätschern der kleinen Panke, ein kleiner Fluss in Berlin, durchbricht die stetige Ruhe in der Nachbarschaft.
Ich schaue mich um – eine verlassene Baustelle, eine nasse Bank, viele grün-gelbliche Bäume, eine mit bunten Flaggen geschmückte Schule und ein Wandgemälde auf der Fassade des naheliegenden Wohnhauses. Durch die dominante Farbe Grün des Murals (Abb. 1) fügt es sich in die Umgebung ein und stellt einen optischen Bezug zu den vielen Bäumen entlang der schmalen Panke her. Das Motiv ist simpel: Eine junge Frau umarmt eine weitere schemenhafte Figur, deren Rücken von einem Pfeil durchbohrt ist.
Die weibliche Figur lässt sich als eine ukrainische Frau identifizieren, denn sie scheint eine Wyschywanka [2] zu tragen. Diese ist eine traditionelle ostslawische Bluse, die mit roten Stickereien verziert ist. Ich frage mich, ob meine Vermutung stimmt, und nähere mich dem Mural.
Das Mural Present in Kyjiw
Ungefähr auf Augenhöhe der Betrachtenden befindet sich eine Tafel, die über das Werk Absent informiert. Das Werk wurde 2022 von dem Berliner Künstlerkollektiv Innerfields [3] im Rahmen des Projekts „Walls of Vision“ der Dr. Hans Riegel-Stiftung realisiert. Absent ist das Pendant zu einem weiteren Werk von Innerfields, das auf eine Hochhauswand in Kyjiw gemalt ist. Present (Abb. 2) entstand 2016, also zwei Jahre nach der Annexion der Krim. Die Informationstafel wird mit einem Zitat der Künstler über das Mural abgeschlossen: „Dedicated to all the people who don’t choose war but lose their beloved to it.“
Es geht also um den russisch-ukrainischen Krieg.
Auch im Mural Present sind zwei sich umarmende Figuren dargestellt: Die junge Frau mit blonden, zusammengebundenen Haaren trägt eine schlichte blaue Bluse mit roten Ärmeln und einen knielangen, mit Punkten gemusterten blauen Rock. Dieses Wandgemälde befindet sich auf der seitlichen Fassade eines Plattenbauwohnkomplexes in Kyjiw. Ähnlich wie das Berliner Mural fügt sich das Werk organisch in seine Umgebung ein, sowohl farblich als auch dimensional. Absent nimmt Bezug auf den Kyjiwer Vorgänger mit dem entgegengesetzten Titel, aber auch in der Komposition, die das identische Motiv spiegelbildlich wiederholt. Welche Bedeutung hat nun die Wyschywanka in diesem Werkkomplex?
Es ist Krieg! – Zum historischen Hintergrund der Werke
Zwischen der Realisierung der beiden Murals liegen sechs Jahre. 2016 sind bereits zwei Jahre seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim vergangen. Viele Veteranen aus den umkämpften ostukrainischen Gebieten wohnen genau in dem Stadtviertel, in dem das Kollektiv Innerfields das Mural Present schuf. Zu diesem Zeitpunkt sprechen jedoch nur wenige von einem russisch-ukrainischen Krieg. Dieser wird überwiegend als „der Ukraine-Konflikt“ bezeichnet.
Ab dem 24. Februar 2022 ändert sich die Situation drastisch. An diesem Tag beginnt die Vollinvasion der Ukraine, die ein neues Stadium des russisch-ukrainischen Krieges eröffnet. Viele Ukrainer*innen fliehen nach Deutschland; ca. 50.000 ukrainische Staatsangehörige lassen sich dabei in Berlin nieder. Das Künstlerkollektiv Innerfields entscheidet sich, ein weiteres Zeichen der Solidarität und Unterstützung in ihrer Heimatstadt zu setzen. Und so entsteht das Mural Absent in Berlin-Wedding. Dieses Mal ist die junge Frau mit einer Wyschywanka gekleidet, die ihre nationale Zugehörigkeit unterstreicht.
Die Wyschywanka: kein gewöhnliches Oberteil
Die beiden Murals von Innerfields sind allen Ukrainer*innen gewidmet, die ihre Mitmenschen im Zuge des grausamen Krieges verloren haben. Es geht um den Schmerz und die Trauer dieser Menschen. Es geht um eine fortwährende, nie verblassende Erinnerung an die Abwesenheit der Verstorbenen. Es geht um eine fast poetische und transformative Kraft der Kunst, welche allen Betroffenen einen praktischen Halt bieten kann.
Das deutsche Künstlerkollektiv setzt sich für die Unabhängigkeit ukrainischer Identität ein, damit diese in ihrem gesamten Wesen anerkannt wird. Denn ein wichtiger Teil der russischen Propaganda ist gerade die Verneinung der Historizität ukrainischer Selbstidentifizierung.
Damit wird deutlich, dass die Wyschywanka eine entscheidende Rolle in dem Berliner Mural hat: Dieses steht für den Widerstand der Ukrainer*innen, für ihre eigene Sprache sowie ihr reiches kulturelles Erbe.
Abgrenzung zwischen ukrainischer und russischer Identität: warum?
Zehn Jahre nach dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges existiert eine deutlichere Abgrenzung zwischen russisch und ukrainisch. Besonders der Beitrag westlicher Künstler*innen wie der von Innerfields ist wichtig, denn er zeigt, dass ukrainische Menschen in ihrer Trauer und in ihrem langanhaltenden Schmerz gesehen werden. Diese Abgrenzung ist ein klares Zeichen gegen die russische Staatspropaganda, welche die Ukraine auch im besten Fall immer nur als den „kleinen Bruder Russlands“ darstellt.
Das Plätschern der kleinen Panke ist immer noch da. Ähnlich wie Millionen der Ukrainer*innen auf der ganzen Welt, die Ukrainer*innen bleiben wollen.
Anmerkungen:
[1] Englisch für Wandgemälde. In diesem Beitrag werden beide Begriffe (Mural und Wandgemälde) parallel verwendet.
[2] Wyschywanka (dt. Stickerei) ist ein ostslawisches Stickereimuster, das als ein Amulett für eine ausgewählte Körperstelle dient. Dabei sind besonders lebenswichtige Körperstellen, wie Brust oder Arme für die beschützenden Motive der Wyschywanka beliebt. Vor allem ist es in der Ukraine verbreitet, aber auch in Belarus und Russland kommen solche Muster vor. In der Ukraine trägt die Wyschywanka den Status des nationalen Kulturguts.
[3] Das Berliner Künstlerkollektiv Innerfields besteht aus Jakob Tory Bardou, Holger Weißflog und Veit Tempich. Das Trio arbeitet seit 1998 zusammen.
Internetquellen:
Über das Projekt Present in Kyjiw:
https://www.innerfields.de/projects/street-art/present-kiev/ [Abruf: 04.03.2024]
Zu den aktuellen Zahlen ukrainischer Flüchtlinge in Berlin: https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/gefluechtete-ukraine-116.html [Abruf: 25.02.2023]